Flüchtlingsstrom: Das Meer ist dasselbe. Im Tod sind alle gleich



Sein vollständiger Name war lang und schwer auszusprechen, deshalb nannte man ihn einfach Titti. Er war aus einem kleinen Dorf in Nigeria geflüchtet, weil das Leben dort, wo er herkommt, keinen Wert habe, erzählte Titti, oder vielmehr einen, der sich in Geld ausdrücken lässt. Ist das schockierend? Ja. Schockiert es? Offenbar nein. Im aufgeklärten, demokratischen Europa errechnet man stattdessen Kosten, die jedes gerettete Flüchtlingsboot verursacht. Eurobeträge werden Menschenleben gegenübergestellt. Eine nackte und kalte Berechnungsrealität, budgetfreundlich und menschenfeindlich zugleich. Diese Realität lässt Menschen abstumpfen, sie beeinflusst die Wahrnehmung, führt zu unterschiedlicher Wertung von Schicksalen, als wäre Herkunft und Stellung ein Einstufungskriterium, als könne man Leben einordnen, beziffern und ablegen wie in einem Warenlager. Ein Leben, das durch ein havariertes Kreuzfahrtschiff ausgelöscht wird, hat nicht denselben Stellenwert, wie jenes, das durch das Sinken eines Flüchtlingsbootes erlischt. Und doch enden beide Leben im selben Meer. Im Tod erst sind sie gleich.
Wenn Tausende, die übers Meer wollen, still und leise sterben, einer nach dem anderen, anonym und kaum bemerkt, so kümmert das nur am Rande. Wenn aber ein Flüchtlingsboot mit dreihundert Personen an Bord sinkt, beginnt plötzlich die mediale Aufbereitung. Große Katastrophen garantieren Einschaltquoten. Das ist die andere Wahrheit. Sie ist zynisch, aber nicht neu. Plötzlich stehen beachtliche Geldsummen für die Rettung von Flüchtlingen zur Verfügung, und es werden Projekte gestartet. Projekte, allein schon das Wort verdeutlicht das Zögern. Im Grunde geht es um Aufmerksamkeit, am Ende um Vermarktung: Verstörte Politikergesichter schauen mitgenommen in Kameras, als wäre das, was dort geschieht, die Neuigkeit der Woche. Wie makaber.
Unbeantwortet bleibt die Frage, was nach einer Rettung mit den Gestrandeten geschehen soll. Fortan tragen sie den Namen Flüchtling mit sich herum, weil man sie leider allzu oft nicht wie Menschen behandelt, sondern wie Treibgut, wie irgendwo Abgestellte. Unerwünscht, lästig, zwischen den Ländern hin und hergeschoben wegen der Zuständigkeiten, weil zwar alle helfen wollen, aber niemand sie aufnehmen will.
Auf schwierige Fragen gab es noch nie leichte Antworten, das verdeutlicht das Beispiel des in Österreich gelandeten Flüchtlings Titti. Er wollte arbeiten, dazu fehlte die Aufenthaltsgenehmigung, diese bekam er nicht, weil er dafür einen Wohnsitz benötigte, wozu es wiederum einer Aufenthaltsgenehmigung bedurft hätte. Wohin Tittis Weg führte, war spätestens nach diesem erniedrigenden Behördengang vorherbestimmt. Dass diese Menschen Geld für ihren Wartezustand erhalten, obwohl viele es bevorzugen würden, dafür zu arbeiten, wird zum Vorwurf. Solche, die das System ausnutzen, gibt es, wie viele es sind, sollen andere beantworten, die über entsprechende Daten verfügen. Vielleicht werden manche auch dazu getrieben, durch das zermürbende Ausharren in einer Endlosschleife, durch einen lähmenden Zustand aus Langeweile und Untätigkeit, dem Gefühl, nutzlos, wertlos zu sein. Von den Folgen lesen wir täglich großbuchstabenförmig in den Zeitungen.
Um zu verstehen - soweit dies überhaupt möglich ist -, müssen Fragen gestellt werden, Fragen nach den Ursachen, den Gründen für Flucht, Armut, Aussichtlosigkeit, Verfolgung, Angst. Und die Geschichte selbst, unsere Geschichte muss betrachtet werden, die Kolonialisierung, die Entstehung willkürlich gezogener Grenzen ohne Rücksicht auf Ethnien, auf Zugehörigkeiten, die Fremdbestimmung durch westliche Länder, der Glaube, Demokratie sei eine Errungenschaft, die man anderen Ländern, wenn es sein muss auch mit militärischer Gewalt, überstülpen muss. Das Gewaltsame und Aufzwingende dieser Handlung ist gleichzeitig der Verrat an der Demokratie, sie wird zum Mittel, um Interessen durchzusetzen. Internationale Großkonzerne nutzen das Gesetzesvakuum in unterentwickelten Ländern, um Bodenschätze zu erbeuten. Rüstungsfirmen beliefern War-Lords mit Waffen. Mal werden Rebellen von finanzstarken Ländern unterstützt, dann wieder die Regierenden, je nach Einschätzung der Lage, je nach Beurteilung der eigenen Vorteile. Ein Kahlschlag was Stabilitätsbestrebungen und die friedliche Lösung von Konflikten betrifft, ein Brandbeschleuniger in Krisengebieten, ein offenbar einkalkulierter Kollateralschaden. Aus neu gegrabenen Tiefbrunnen wird Wasser gewonnen, in Flaschen abgefüllt und teuer verkauft, der Bau einfachster Bewässerungssysteme für die Bevölkerung indes scheint nicht umsetzbar. Helfen bringt bekanntlich keinen Profit. Zudem bedeutet Wasser gleichsam Nahrung, daraus folgt Entwicklung, und Entwicklung führt bestenfalls zu Bildung. Der Schritt in die Unabhängigkeit wäre möglicherweise nicht mehr weit. In einem unabhängigen und freien Land allerdings fällt das Ausbeuten wesentlich schwerer, das weiß man, und das weiß man offenbar zu verhindern.
Immer mehr Menschen drängen in den Norden, in den Westen. Schlepperbanden streuen falsche Hoffnung von Freiheit und einem besseren Leben, die Not der Menschen wird zur unerschöpflichen Geldquelle. Wer kann ihnen verübeln, dass sie dorthin wollen, wo sie mehr vermuten, als sie zu Hause haben?
Der Flüchtlingsstrom  stellt eines der größten Probleme unserer Zeit dar, diesen Umstand zu verschweigen oder kleinzureden wäre der falsche Ansatz. Wie auch der Irrglaube, die Politik alleine könne durch gesetzliche Regulierung eindämmen, wofür Leute bereit sind, ihr Leben zu riskieren: Die Suche nach einer Zukunft. Wer so denkt, hat die Zusammenhänge nicht verstanden. Was dort passiert, hat nämlich auch mit uns zu tun. Jede Kaufentscheidung trägt ein Stück weit dieses System, diese Wahrheit verdrängen wir nur allzu gerne, weil sie unbequem ist. Bessern kann sich die Lage nur, wenn sie sich in erster Linie dort bessert, von wo diese Menschen flüchten. Nichtwissen darf keine Entschuldigung mehr sein, das Leugnen ändert die Lage nicht. Es wurden mehr Kriege geführt, um Völker an ihrer Entwicklung zu hindern, als um sie zu beschützen oder sie zu befreien.
Nicht zuletzt sind es die Zwischenrufe, die Hetzkampagnen, die Intoleranz, der Hass, der immer wieder erwacht, wenn es um Flüchtlinge geht, manchmal auch eine schier blinde Wut, die zeigen, wie mit diesem Konflikt umgegangen wird. Beschämend, kaum begreiflich, denn im Grunde ist es vordergründig Angst, die diese Diskussion beherrscht, das Klima vergiftet. Angst vor steigender Kriminalität, Angst vor der Krise, den vielen Arbeitslosen, Angst wegen Schlagwörtern wie Überfremdung, was auch immer das bedeutet. Angst, als ginge es für uns ums nackte Überleben, für uns, nicht für die Flüchtlinge. Selbstredend bietet es sich also an, für all die Schwierigkeiten der Gegenwart einen Schuldigen zu suchen. Am besten, er kommt von außerhalb.
Befremdlich ist, wie diese Angst in Ablehnung und Wut sich äußert, in Abgrenzung, ja Ausgrenzung. Die Angst beengt den Ängstlichen, am Ende grenzt er sich selbst aus. So schnell wird sich das auch nicht ändern. Der Umgang mit dem Problem aber, der kann sich ändern. Der Umgang mit den Menschen auch. Das sind wir nicht nur denen schuldig, die hier ankommen, das sind wir uns selbst schuldig.